Luxemburgs Dialektik richtet sich einerseits gegen die marxistische Orthodoxie und ihren antiemanzipatorischen dialektischen Materialismus, andererseits gegen die revisionistische Kritik der Dialektik. Durch ihren Charakter als materialistische, konkret historische Dialektik – der auf politischer Ebene die „revolutionäre Realpolitik“ entspricht – kann sie auch der heutigen poststrukturalistischen Polemik gegen die Dialektik begegnen. Rosa Luxemburg kann daher einiges helfen für die Rekonstruktion einer emanzipatorischen Dialektik, die angesichts der zunehmenden Krisentendenzen immer wichtiger wird.
1. Dialektik in Luxemburgs Werk
Luxemburg hat keine philosophischen oder methodologischen Texte verfasst, aber mehrfach explizit und deutlich für die Dialektik und eine kritische Bezugnahme auf Hegel Partei ergriffen. Es ist allerdings gerade der Punkt der materialistischen Dialektik, dass diese Methode nicht unabhängig vom Gegenstand formuliert werden kann, sondern nur in der konkreten Untersuchung eingesetzt werden kann. Beispielsweise hat auch Marx keine methodische Darlegung der Dialektik geschrieben. Tatsächlich sind Luxemburgs gegenständlichen Untersuchungen – die Akkumulation des Kapitals, die Kritik des Revisionismus, die Kritik des Nationalstaat – in einem scharfen Bewusstsein über die dialektische Methode verfasst.
Dieses Verständnis von Dialektik, für das ich unter anderem mit Luxemburg argumentiere, nämlich dass es Dialektik nur in der konkreten Untersuchung, nicht als von ihr getrennte Methode oder „Logik“ gibt, ist allerdings der heute üblichen Diskussion – z. B. Neue Marx-Lektüre – von Dialektik diametral entgegengesetzt. Dort wird lediglich der „richtige“ Begriff von Dialektik unter ausschweifender und komplizierter Bezugnahme auf Hegel diskutiert, ohne dass daraus irgendetwas für konkrete Untersuchungen folgt oder solche dialektisch angeleiteten Untersuchungen jemals in Angriff genommen werden. Die Konsequenz ist eine abgehobene Methodendiskussion, die ihren Bezug zur Wirklichkeit wie auch zur emanzipatorischen Praxis verloren hat. Luxemburgs auf Wirklichkeit und Praxis gerichtete Dialektik kann hier eine ganz andere Orientierung bieten.
2. Lukács und der Einfluss Luxemburgs auf die Frankfurter Schule
Luxemburgs „Konzeption“ der materialistischen Dialektik ist vermittelt über ihre Rezeption in Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein in die Methode der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule eingegangen, obwohl Luxemburg hier kaum je als Quelle diskutiert wird.
Diese Methode beinhaltet den Blick auf die gesellschaftliche Totalität, die verselbständigte Bewegung sachlicher Formen und den „fetischistischen“ Effekt verdinglichter Verhältnisse aufs Bewusstsein; vor allem aber die Negativität der Dialektik, d. h. dass sie dialektischen Bewegungen keinem selbständigen Bewegungsgesetz folgen bzw. die Dialektik nicht positiv und ontologisch ist, sondern ein „negativer“ Effekt von widersprüchlichen gesellschaftlichen Beziehungen wie der der Warenproduzierenden.
Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein ist allerdings selbst der Versuch einer Verschmelzung einer solchen kritischen Dialektik und einer positiven ontologischen Dialektik (dies wird als „dialektischer Materialismus“ bezeichnet). Lukács bezeichnet Geschichte und Klassenbewusstsein explizit als Kombination der methodologischen Lehren Luxemburgs (sc. kritische Dialektik) und Lenins (sc. positive Dialektik).
Im Vorwort von Geschichte und Klassenbewusstsein schreibt Lukács explizit, dass er an Luxemburgs methodische Leistungen anknüpft:
„Es muß nun hier […] in einigen Worten erklärt werden, weshalb Darlegung und Interpretation der Lehre Rosa Luxemburgs, die Auseinandersetzung mit ihr einen so breiten Raum in diesen Blättern einnimmt. Nicht nur weil m. E. Rosa Luxemburg der einzige Schüler von Marx gewesen ist, der sein Lebenswerk sowohl im sachlich-ökonomischen wie im methodisch-ökonomischen Sinne wirklich weitergeführt und in dieser Hinsicht an den gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung konkret angeknüpft hat. Wobei freilich in diesen Blättern, ihrer Zielsetzung entsprechend, auf die methodologische Seite der Fragen das entscheidende Gewicht gelegt wurde. […] Eine wirklich kommunistisch-revolutionäre, marxistische Einstellung kann für den, der von hier ausgegangen ist, nur über eine kritische Auseinandersetzung mit dem theoretischen Lebenswerk Rosa Luxemburgs errungen werden.“
Luxemburgs methodische Leistungen arbeitet Lukács im zweiten Aufsatz des Buchs heraus, nämlich „Rosa Luxemburg als Marxist“. Dort heißt es etwa:
„Es kommt hier nur darauf an, auf die beiden Voraussetzungen einer wahrhaften, nicht spielerischen Handhabung der dialektischen Methode […] auf die Forderung der Totalität sowohl als gesetzten Gegenstand wie als setzendes Subjekt scharf hinzuweisen. […] Rosa Luxemburgs Hauptwerk ‚Die Akkumulation des Kapitals‘ nimmt nach Jahrzehnten der Vulgarisierung des Marxismus das Problem von diesem Punkt auf.“
3. Der Revisionismus und die Dialektik Luxemburgs
Die materialistische Dialektik wurde seit Bernstein wiederholt scharf kritisiert, heute vor allem vom Poststrukturalismus. Während deren Argumente einen bestimmten Hegelmarxismus und sein positives ontologisches Dialektik-Verständnis durchaus richtig treffen, kann man von Luxemburg ein kritisches, negatives Dialektik-Verständnis lernen, das Bernsteins kritische Argumente teilt, ohne die Dialektik preiszugeben. Luxemburgs Dialektik verbindet damit eine Kritik historisch-empirischer Verhältnisse und eine revolutionäre Kritik, die auf die gesellschaftliche Totalität zielt. Auf der politischen Ebene entspricht dem ihr Diktum der „revolutionären Realpolitik“.
Luxemburg kann damit in den heutigen Zeiten, in denen Dialektik out ist und als überflüssig kritisiert wird, gerade mit ihrer Revisionismus-Kritik die Grundlage einer produktiven reflektierten Dialektik sein. In den heutigen Zeiten wird dabei die Dialektik immer wichtiger, weil es in den aktuellen Krisentendenzen zunehmend um sich verschärfende Widersprüche und die Zusammenhänge multipler Krisen in der gesellschaftlichen Totalität geht, und sich letztlich Faschisierungstendenzen nur mit dialektischer Methode angemessen analysieren lassen.
Bernstein kritisierte die Dialektik als Metaphysik, die abzulehnen sei: Nämlich dass eine dialektische Widerspruchsentwicklung im Sinne determinierte Fortschrittsentwicklung hin zur Revolution angenommen wird, und dass die dialektisch-begrifflichen Konstruktionen einfach von oben herab auf die historische Wirklichkeit gepropft werden und diese durch die Dialektiker*innen daher gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Die Argumente des Poststrukturalismus gegen die Dialektik (Geschichtsteleologie, Begriffskonstruktionen) sind weitgehend dieselben.
Emanuel Kapfinger