Was ist materialistische Dialektik?

In a nutshell

Materialistische Dialektik ist kritische Darstellung von entfremdeten gesellschaftlichen Bereichen in deren systematischem Zwangszusammenhang, und arbeitet sowohl die Abstraktionslogiken der jeweiligen Bereiche als auch deren Widersprüche heraus. Sie hat von vornherein die praktische Zielsetzung der Emanzipation von all dem (von Entfremdung, Zwangszusammenhang, Abstraktion und Widersprüche).

Marx‘ Kapital ist die paradigmatische kritische Darstellung in diesem Sinn, als Kritik der politischen Ökonomie. Allerdings sind auch andere gesellschaftliche Bereiche materialistisch-dialektisch zu analysieren, das ist sowohl bei Marx der Fall – in Bezug auf Politik, Staat, Recht und Philosophie – als auch viele von Marx nicht dialektisch dargestellte Bereiche: vor allem gesellschaftliche Naturverhältnisse, Subjekt, Kultur, Ideologie, Kunst.

Wenn auch materialistische Dialektik in der Regel (und zurecht) als Methode diskutiert wird, so ist sie keine Methode, die man abstrakt als formelle Methode unabhängig von diesen konkreten Darstellungen diskutieren könnte. Es gibt materialistische Dialektik also nicht vor der Kritik als „richtige Methode“, sondern nur in einer konkreten Untersuchung. Materialistische Dialektik ist gewissermaßen nichts anderes als konkret ausgeführte kritische Gesellschaftstheorie.

Die materialistische Dialektik ist allerdings nur die negative Methode der Kritik der Formen der kapitalistischen Gesellschaft. Ihr vorgeordnet ist daher der Historische Materialismus, von dem aus erst Probleme wie die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft, Verknüpfung mit prä- oder nichtkapitalistischen Formen, Krise, Faschisierung oder Revolution gedacht werden können.

Was heißt also materialistische Dialektik?

Sie müsste ungefähr so aussehen wie Marx es im „Kapital“ macht: Er analysiert jedes Einzelproblem (Wert, Arbeitslohn, Akkumulation, Finanzkapital …) in seiner eigentümlichen Logik, stellt aber andererseits eben diese Einzelprobleme in ihrem systemischen Zusammenhang dar. Und weil sich die Gesellschaft ständig ändert, kann die dialektische Theorie nicht aus einem einmal fertigen System bestehen, sondern sie muss ihre Analyse der Einzelprobleme und den Zusammenhang beständig aktualisieren. Heute heißt das zum Beispiel, dass die Theorie sich Kategorien für das Verhältnis des Menschen zur Natur im Klimawandel, den heutigen imperialistischen Weltmarkt, die digitalisierte Eventkultur, den antimuslimischem Rassismus, die heutige hegemoniale Weiblichkeit oder das Verhältnis des derzeitigen Rechtspopulismus zum Faschismus erarbeiten muss. Dafür reicht es nicht, einzelne Begriffe für neue Phänomene zu formulieren, was ja geschieht, sondern diese Begriffe im Gesamtzusammenhang der Kategorien zu reflektieren, und damit sowohl auf Grundfragen der kapitalistischen Formen, z. B. die Werttheorie, als auch ihre konkrete Erscheinung im Alltag zu beziehen. Erst hierdurch sind die Kategorien unter dem emanzipatorischen Aspekt ihrer Aufhebung begriffen.

Die Dialektik hat also unmittelbare Relevanz für die revolutionäre Praxis: Erst wenn die Einzelprobleme aus diesem systemischen Zusammenhang heraus begriffen werden, können sie als Teile eines Systems, das als System überwunden werden muss, aufgefasst werden. Erst mit einer derart ausgearbeiteten Theorie, die die aus der Praxis heraus fortentwickelt wird und in ihr breit diskutiert wird, ist Revolution praktisch möglich. Denn erst dann kann die gegenwärtige Gesellschaft als durch ein systematisches Ganzes beherrscht kritisch wahrgenommen werden und entsprechend die Praxis nicht dadurch aufgesogen werden.

Warum ist materialistische Dialektik heute wichtig?

Wir halten den Verlust des dialektischen Denkens in der gegenwärtigen marxistischen und emanzipatorischen Diskussion für ein enormes Problem, vergleichbar mit dem Verlust der Klassentheorie. Ohne Dialektik hat die Theorie weder ein Konzept von Widersprüchen noch von Totalität, und sie muss theoretisch in Affirmation verfallen, praktisch in Reformismus.

Heute geht es um das Projekt der historisch angemessenen Rekonstruktion der materialistischen Dialektik innerhalb einer Diskussion innerhalb der Theorie zur Erneuerung eines revolutionären Marxismus.

Warum „materialistisch“, im Gegensatz zu „idealistisch“? 

Die materialistische Dialektik heißt so, um den Gegensatz zur idealistischen Dialektik zu benennen. Dabei lässt sie sich nicht unmittelbar aus dem Wortsinn von „materialistisch“ erklären. Sie ist keine Dialektik, die über Materie, also Stoffliches nachdenkt, während die idealistische Dialektik nur über Ideales, Geistiges nachdenken würde. Bei dem Gegensatz geht es vielmehr primär darum, dass idealistische Dialektik das Bestehende in seiner Totalität affirmiert, während die materialistische Dialektik es kritisiert. Die materialistische Dialektik versteht sich also als die Methode einer Theorie, die die Theorie einer radikalen Emanzipation ist. Sie kritisiert die idealistische Dialektik gerade darin, die Widersprüche des Bestehenden zu verklären und zu verewigen und sich so der Emanzipation entgegenzustellen. Das ist also zunächst ein praktischer Materialismus, der für die Bedürfnisse und das Leben der Menschen eintritt, insofern diese im Bestehenden entfremdet und beherrscht sind.

Darüber hinaus bezieht sich der Materialismus dann auf die philosophische Option, dass sehr grob gesagt das Sein der Menschen primär aus ihren stofflichen und natürlichen Verhältnissen (Arbeit, Sinnlichkeit, Natur, Bedürfnisbefriedigung) besteht, während der Idealismus an diese Stelle das Denken und den Geist setzt. Das ist aber sehr vereinfacht, und müsste weiter diskutiert werden: Der Marxsche Materialismus stellt sich weder gegen den Geist noch erklärt er ihn für einen Schein, vielmehr sind ihm die Menschen mit ihrer Arbeit, ihren Bedürfnissen und ihren Verhältnissen auch geistig.

Der Gegensatz von materialistischer und idealistischer Dialektik bezieht sich zunächst immer auf die Kritik von Marx an Hegel. Hegel steht also grundsätzlich für idealistische Dialektik, und man sagt dann so, dass Marx als Schüler Hegels in Auseinandersetzung mit Hegel die Grundlagen der materialistischen Dialektik geschaffen hat. (Allerdings gibt es kein Kompendium von Marx, in der er die materialistische Dialektik beschrieben hätte, was die Angelegenheit leider etwas kompliziert macht, dazu weiter unten.)

Über Marx und Hegel hinaus steht dann materialistische und idealistische Dialektik für diese beiden Denkströmungen.

Eingeführt wurde die wörtliche Bezeichnung dieses Gegensatzes unseres Wissens von Friedrich Engels in „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, aber das müssen wir nochmal nachprüfen. Hier ist übrigens die Vorsicht geboten, von Engels Beschreibung dieses Gegensatzes nicht direkt auf das Marxsche Verständnis der materialistischen Dialektik zu schließen.

Der „dialektische Materialismus“ oder „Diamat“ wieder ist vor allem eine Doktrin des Marxismus-Leninismus – also des unkritisch und staatstragend gewordenen Marxismus. Dialektik ist hier nicht mehr wie bei Marx elementar mit Kritik verbunden, sondern soll Grundregeln des Seins, von Natur und Geschichte überhaupt, beschreiben. Der Diamat hat also mit unserer Dialektikdiskussion hier nichts zu tun.

Wie kommt man hinein in die Diskussion der materialistischen Dialektik?

Die Diskussion der materialistischen Dialektik ist leider etwas voraussetzungsreich, und die Aneignung dieser Voraussetzungen ist recht kompliziert. Es gibt weder ein „Grundlagenwerk“, noch kann man linear bestimmte Texte durcharbeiten, um ins Thema hineinzukommen.

Zwar wird die Begründung der materialistischen Dialektik allgemein mit dem Werk von Marx verbunden, aber Marx hat keine systematische Darstellung der materialistischen Dialektik geschrieben. Man sagt jedoch, dass Marx in seinen Untersuchungen, und das heißt vor allem im „Kapital“, nach der Methode der materialistischen Dialektik vorgegangen ist, und dass wir uns diese Methode aneignen können, indem wir das „Kapital“ lesen und auf dessen Methode achten. Außerdem hat sich Marx in einigen Texten kritisch mit der Hegelschen Dialektik auseinandergesetzt, so dass daraus der Gegensatz von Marxscher und Hegelscher Dialektik zu verstehen ist sowie indirekt Grundzüge der Marxschen Dialektik. Dies sind vor allem die Frühschriften „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ und das Hegel-Kapitel in den „Pariser Manuskripten“. Schließlich gibt es einige allgemeine Einlassungen von Marx zu seinem Verständnis von Dialektik, wie das berühmte Zitat, dass seine Methode die „Umstülpung“ der Hegelschen ist; aber aus diesen allgemeinen Einlassungen kann man inhaltlich nicht viel über die Marxsche Dialektik ableiten.

Im Prinzip ist der „direkteste“ Einstieg in die materialistische Dialektik die Lektüre des „Kapital“, weil man dabei im konkreten Vollzug materialistisch-dialektisch denkt.

Dies tut man dann allerdings, ohne diese Methode aktiv nachzuvollziehen. Hierfür benötigt man also eine Darlegung spezifisch der Dialektik als Methode, um sie als dann im „Kapital“ aktiv nachvollziehen zu können, und dafür steht dann Hegel mit seinem Werk, in erster Linie der „Wissenschaft der Logik“. Dies ist dann allerdings sehr anspruchsvoll, weil dieses Buch über 1000 Seiten hat und Hegel überhaupt sehr schwer zu lesen ist. Es ist die Frage, auch für uns, ob diese Einarbeitung spezifisch in die Dialektik als Methode auch ohne Hegel, und dann: anhand welcher Texte, möglich ist. Und auch dann steht man allerdings vor dem Problem, dass die Hegelsche Dialektik eben nicht die Marxsche ist. Man kann sich beim Nachvollzug der Marxschen Methode im „Kapital“ von der Hegelschen zwar inspirieren lassen, aber Hegelsche Denkfiguren lassen sich im „Kapital“ nicht im unmittelbaren Einsatz finden, sondern nur eben „materialistisch umgestülpt“. Die erwähnte Hegel-Kritik von Marx kann hierbei helfen.

Als wäre das nicht schon kompliziert genug, gibt es nun allerdings eine Fülle von klassischen Autoren, die entweder beanspruchen sagen zu können, was die materialistische Dialektik ist, oder zumindest, zu ihrer Klärung gewichtige Beiträge geleistet zu haben. Hier sind zu nennen etwa Lenin, Lukács, Korsch, Althusser, Backhaus. Für die Diskussion ist die Lektüre auch dieser Texte nicht unwichtig, einerseits weil sie sehr weiterhelfen, um die materialistische Dialektik überhaupt zu verstehen, andererseits weil viele in der Diskussion so auftreten, als wäre die Interpretation z. B. von Lenin oder Lukács „genau“ die Marxsche Dialektik. Zur Information über diese verschiedenen Positionen zur materialistische Dialektik kann man sich den Sammelband „Modelle materialistischer Dialektik“ von Heinz Kimmerle aus dem Jahr 1978 ansehen.

Zwei Irrwege in der Dialektikdiskussion

Es gibt in der Diskussion der materialistischen Dialektik zwei Irrwege, in die man sich schnell verrennt und die sehr einflussreich sind.

Der erste besteht darin, dass materialistische Dialektik als Wissenschaft abstrakter dialektischer Denkfiguren betrieben wird, zum Beispiel das „Gesetz des Umschlags von Quantität in Qualität“. So wird Dialektik im Marxismus-Leninismus verstanden und dort dann in der Regel als Lehrgebäude des „Diamat“ (dialektischer Materialismus) formuliert. Dialektisches Denken wird hier nicht als Untersuchung konkreter Probleme verstanden, sondern es wird zu einem Lehrgebäude der universellen Gesetzen von Natur und Geschichte verflacht. Wie das dann aussieht, kann man zum Beispiel in diesem einschlägigen Blog-Eintrag sehen. Dies ist deutlich zu kritisieren: Dialektik hat, so wie wir Marx verstehen, nur als Formlogik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einen Sinn, ist also historisch spezifisch und verliert ihren Sinn mit der Emanzipation von den herrschenden Formen, die sie kritisiert. Die Dialektik der antiken und der mittelalterlichen Philosophie unterscheidet sich von den modernen Formen.

Der zweite Irrweg besteht darin, die Probleme der materialistischen Dialektik auf dem Umweg über Hegel zu klären, und die vollständige Beherrschung Hegels zur absoluten Voraussetzung der materialistischen Dialektik zu machen. Dann ist eine genaue Kenntnis des Hegelschen Werks, mindestens der Wissenschaft der Logik, sowie der Marxschen Kritik an Hegel vonnöten. Vor allem aber ist ein tiefes Verständnis der Hegelschen Dialektik vonnöten. Es ist dann sozusagen nicht erlaubt, über materialistische Dialektik unabhängig von der Bezugnahme auf ein tiefes Verständnis von Hegel zu sprechen. Während man eigentlich damit beginnt, sich die materialistische Dialektik aneignen zu wollen, landet man dann flugs in einer anderen Wissenschaft, nämlich der umfassenden Aneignung der Hegelschen Dialektik.

Dabei ist ohne Zweifel richtig, dass man mit Hegel die Dialektik bei Marx sehr viel besser versteht und sicher auch ohne Hegel die Dialektik bei Marx nur schwer untersuchen kann. Das Problem an dieser Sackgasse ist, dass sie die gesellschaftskritische Motivation der materialistischen Dialektik ableitet auf eine enorme philologische Unternehmung über das Verhältnis von Hegel und Marx, während es eigentlich bei der materialistischen Dialektik um Kritik in praktischer Perspektive geht. Für diesen Irrweg steht der große Flügel des deutschen akademischen Hegelmarxismus der 70er und 80er Jahre.